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Kommentar

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Die Zeitungen Hürriyet und Al Jazeera Turk

Die liberal-konservative Tageszeitung Hürriyet (zu Deutsch: Freiheit), die ihren Hauptsitz in der türkischen Millionenmetropole Istanbul hat, ist eine der meist verkauften türkischsprachigen Zeitungen des Landes (vgl. HÜT). Mit etwa 340 000 verkauften Exemplaren im April 2016 und etwa 320 000 bis 330 000 im September 2016 (vgl. MEDYA) zählt die Hürriyet zu den beliebtesten Zeitungen in der Bevölkerung. Sie gehört außerdem zu einem der wichtigsten türkischen Medienkonzerne, der Doğan Yayın Holding, die mit diversen Tageszeitungen den Pressemarkt in der Türkei dominiert (vgl. Sümer 2009: 674–675). Auf sich aufmerksam macht die Redaktion zum Beispiel durch Konflikte mit der türkischen Regierung (vgl. SPON, 25.12.2015). Immer wieder hört man auch von Ausschreitungen oder Übergriffen auf die Redaktion zum Beispiel durch AKP-Anhänger (vgl. SPON, 15.09.2015), was nicht verwundert, denn „die Hürriyet gehört zu den wenigen Zeitungen, die kritisch über die Regierung und über Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan berichten“ (SPON, 15.09.2015). Auffallend ist außerdem die Abbildung Mustafa Kemal Atatürks auf der Titelseite der Zeitung. Vor der farbigen türkischen Flagge ist in schwarz-weiß sein Kopf zu sehen; direkt darunter ist folgendes zu lesen: „Die Türkei gehört den Türken“ (türk.: Türkiye Türklerindir) (vgl. Akyol, 11.04.2008). In diesem Zusammenhang scheinen die Konflikte mit der türkischen Regierung sowie der AKP nicht verwunderlich. Im Rahmen des Global Media Forum im Juni 2016 wurde dem Chefredakteur der unabhängigen Zeitung, Sedat Ergin, der „Freedom of Speech Award“ der Deutschen Welle verliehen (vgl. Muno, 13.06.2016). Dennoch steht Ergin, wie viele andere Journalisten in der Türkei, vor Gericht: Er habe angeblich den Präsidenten Erdoğan beleidigt (vgl. FAZ, 22.04.2016). Es ist offensichtlich, dass die Hürriyet zu den wenigen Medien in der Türkei gehört, die sich nicht von der Regierung einschüchtern lassen, auch wenn dies gewisse Konsequenzen, wie Anklagen oder Verhaftungen, nach sich zieht. Pressefreiheit ist, ebenso wie Meinungsfreiheit, ein wichtiger Bestandteil jeder Demokratie. Die momentane Situation in der Türkei macht es Journalisten jedoch gar unmöglich, sich mit ihrer Arbeit nicht in Gefahr zu bringen.

Al Jazeera (zu Deutsch: die Insel) zählt wohl zu den bekanntesten und verbreitetsten Fernsehsendern der arabischen Welt. Als Nachfolger des 1994 gescheiterten Projekts BBC Arabic Television, das von der saudischen Königsfamilie gesponsert wurde (vgl. Seib 2005), ist Al Jazeera heute in mehreren Sprachen, darunter Türkisch, verfügbar. Seinen Sitz hat der von der katarischen Regierung finanzierte Sender in Doha, der Hauptstadt des Golfstaates Katar (vgl. ALB). Der Sender, der als der einflussreichste der arabischen Welt gilt, wird jedoch heutzutage für seine Einseitigkeit und angebliche Nähe zu Islamisten kritisiert:

Manche Kollegen Hejjawis haben bei Al-Dschasira gekündigt, weil sie ihren Namen nicht für ein einseitiges Programm hergeben wollten. Andere halten aus. Manche aus Überzeugung, weil sie dem Sender und seinen alten Idealen die Treue halten wollen. Andere hegen eher private Gründe. Auch ein Araber, der unerkannt bleiben möchte. In einem Hintergrundgespräch in Doha sagt er: Wenn ich durch die Büros von Al-Dschasira Mubashar gehe, dann wird mir übel: Die meisten dort sind Islamisten, keine Journalisten. Und es werden immer mehr. Zwar überlege er, zu kündigen, aber die Bezahlung sei eben gut. (Blaschke, 12.04.2014)

 

Auch Schulgeld sowie eine Krankenversicherung hält die Mitarbeiter wohl davon ab zu kündigen (vgl. Blaschke, 12.04.2014). Auf seiner Webseite beschreibt der Sender seinen Journalismus als einzigartig, faktenbasiert sowie als unparteiisch, indem er alle Seiten der Geschichte beleuchte und den Stimmlosen eine Stimme gebe (vgl. JAZ). Doch wird in diversen Medien die Unabhängigkeit und damit Glaubwürdigkeit des Senders in Frage gestellt, wie zum Beispiel in The Guardian:

Many say, however, the station is not free to report critically on Qatar or diverge far from Qatari foreign policy. (Whitaker, 20.09.2011)

 

Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete 2012 von Al Jazeera:

Hier geht es um Politik, nicht um Journalismus. (Suliman, 11.12.2012)

 

Bezüglich der politischen Ausrichtung des Senders sollte zwischen dem arabischsprachigen sowie dem englischsprachigen Sender unterschieden werden: Während Al Jazeera eher islamisch-konservativ geprägt sei und damit den Muslimbrüdern in Ägypten nahe stehe, so orientiere sich Al Jazeera English eher an westlichen Meinungen oder derer säkularer Araber (vgl. HIN). Fakt ist, dass das Netzwerk Al Jazeera mit Vorsicht genossen werden sollte, denn eine politische Abhängigkeit kann nicht ausgeschlossen werden.

 

Zur Lage in der Türkei

Seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges 2011 in Syrien fliehen immer mehr Menschen nach Europa oder in die angrenzenden Nachbarländer. Die Türkei hat bisher die meisten Flüchtenden aufgenommen. Wie viele es genau sind, ist unklar; die Angaben schwanken. In seinem Jahresbericht „Global Trends – Forced Displacement in 2015“ erklärte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) die Türkei mit 2,5 Millionen Flüchtenden zum weltweiten „Top Host“.[1] Im Juni 2016 berichtete Amnesty International von schätzungsweise 3 Millionen Flüchtenden in der Türkei[2]. Doch was geschieht mit den Geflüchteten, die in der Türkei bleiben? Welchen rechtlichen Status haben sie? Können ihnen Bildung, medizinische Versorgung, gar ein Existenzminimum garantiert werden? Ist die Türkei überhaupt in der Lage, mit solch einer großen Zahl an Geflüchteten angemessen und human umzugehen?

 

Die Situation der Flüchtenden

Einer Pressemitteilung des türkischen Außenministeriums vom 3. April 2016 zufolge leben 270 000 syrische Flüchtende in insgesamt 26 Schutzeinrichtungen, wo sie Schutzstatus genießen, über Zugang zu Bildung verfügen sowie medizinisch und psychologisch versorgt werden. Ebenso erhalten Syrer, die außerhalb dieser Zentren leben, Schutzstatus sowie Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung (vgl. MOFA, 03.04.2016). Wie viele Syrer tatsächlich außerhalb der Schutzzentren leben, wird nicht erwähnt. Berichten zufolge wird die Zahl auf über 1,7 Millionen geschätzt; konkrete Zahlen über Flüchtende aus anderen Ländern, wie beispielsweise aus Afghanistan, gibt es nicht (vgl. Walpot). Trotz anhaltender Kritik an der türkischen Flüchtlingspolitik scheint es den Menschen innerhalb der Camps besser zu gehen als außerhalb. Medienberichten zufolge soll es in einigen der Lager im Südosten des Landes sogar kleinere Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen und Supermärkte geben. Durch die Einführung eines Scheckkartensystems erhalten die Familien nun anstelle von Bargeld Karten: umgerechnet 30 Euro pro Kopf laden das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) sowie die türkische Katastrophenschutzbehörde AFAD (Afet ve Acil Durum Yönetimi Başkanlığı)[3] monatlich auf (vgl. Merey, 09.03.2015). Dank der vorhandenen Krankenhäuser ist zumindest eine kostenlose medizinische Erstversorgung möglich. Syrische Kinder haben zudem die Möglichkeit, die Schule in ihrem Lager zu besuchen, wo nicht nur Türkisch, sondern auch Arabisch gelehrt wird. Der Großteil der Geflüchteten lebt jedoch außerhalb der von AFAD errichteten Schutzzentren und scheint damit erheblich schlechter gestellt. Den Angaben der „Generaldirektion Humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz der Europäischen Kommission“ (ECHO) zufolge finden nur etwa zehn Prozent der syrischen Flüchtenden in den Flüchtlingslagern Zuflucht (vgl. EUCOM, 2016). Einer Statistik der World Health Organization Gaziantep von Mai 2016 ist zudem zu entnehmen, dass die türkische Millionenstadt Istanbul sowie die grenznahen Provinzen Hatay, Gaziantep und Șanlıurfa die meisten syrischen Flüchtenden beherbergen. Danach folgen angrenzende Provinzen wie beispielsweise Kilis, ebenfalls grenznahe Provinz im Südosten des Landes, und Izmir an der türkischen Westküste (vgl. WHO, 08.06.2016). Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch berichten außerdem von unzureichender Versorgung und finanzieller Unterstützung sowie Ausbeutung der Flüchtenden außerhalb der Camps (vgl. HRW, 20.06.2016). Bis Anfang 2016 war es Geflüchteten außerdem nicht möglich, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten: Schwarzarbeit war folglich häufig der einzige Weg, um an Geld zu kommen. Erhöhte Mietpreise und unfaire Löhne erschwerten das Leben der Flüchtenden zusätzlich, wenn sie überhaupt Arbeit fanden. Oft wurden sie als Tagelöhner eingestellt und mussten für einen Hungerlohn schuften. Dies begünstigte auch Kinderarbeit, da viele Familien die Lebenshaltungskosten ansonsten nicht decken konnten. Im Januar 2016 entschied die türkische Regierung, dass Geflüchtete eine Arbeitserlaubnis beantragen können, wenn sie bereits mindestens sechs Monate registriert waren; so sollte auch sichergestellt werden, dass sie für ihre Arbeit zumindest den Mindestlohn erhielten (vgl. Weise, 17.02.2016). Was zunächst als entscheidender Fortschritt willkommen geheißen wurde, erwies sich bald als kaum effektiv: Wie die Zeitung The Guardian circa drei Monate nach der Gesetzesänderung berichtete, erhielten bis dato lediglich etwa 2000 Syrer die Möglichkeit, sich für eine Arbeitserlaubnis zu bewerben. Dies entspräche gerade einmal 0,074 Prozent der damals 2,7 Millionen in der Türkei lebenden Syrer. Grund dafür sei die Voraussetzung, bei Beantragung der Arbeitserlaubnis einen Arbeitsvertrag vorzulegen. Die meisten Arbeitgeber würden dies ablehnen, da sie den syrischen Mitarbeitern ansonsten den Mindestlohn sowie die Krankenversicherung zahlen müssten, genauso wie ihren türkischen Mitarbeitern (vgl. Kingsley, 11.04.2016). Ein Ende der Schwarz- und Kinderarbeit, der Ausbeutung und mieser Arbeitskonditionen für Syrer in der Türkei ist demnach wohl noch nicht in Sicht.

Alles in allem scheint die Situation der Flüchtenden in der Türkei eher aussichtslos:

[…] having a lack of legal status, being forced to work in the informal economy, experiencing exploitation and discrimination in the work place, high rental housing prices, being marginalized and a state of being excluded in the receiving society, limited access to education and limited access to medicine are the major problems of living in Turkey. (Şimşek 2015)

 

Zwar profitiert ein kleiner Teil der Geflüchteten von den Vorzügen der Schutzzentren, wenn denn von der Richtigkeit der Berichte ausgegangen werden kann. Dennoch lebt die beachtliche Mehrheit der syrischen Bürgerkriegsflüchtenden außerhalb dieser Zentren. Es ist davon auszugehen, dass die meisten Kinder seit Monaten keine Schule von innen gesehen haben. Stattdessen geht die Tendenz in Richtung Schwarz- und Kinderarbeit, eine Entwicklung, die schwer zu stoppen scheint. Auch Ausgrenzung aus der türkischen Gesellschaft sowie mangelnde medizinische Versorgung machen deutlich, dass die Türkei nicht in der Lage ist, mit einer derart hohen Flüchtlingszahl umzugehen, geschweige denn humane Lebensbedingungen für alle zu schaffen. In diesem Zusammenhang scheint die sogenannte „Politik der offenen Tür“[4], die die türkische Regierung zu führen vorgibt, eher fragwürdig. Auch die Tatsache, dass es - trotz stark zurück gegangener Zahlen – immer noch Flüchtende gibt, die versuchen über Griechenland nach Europa einzureisen, scheint angesichts der eher aussichtslosen Lage der Geflüchteten in der Türkei nicht verwunderlich.

 

Das türkische Asylrecht

Um die rechtliche Lage der Geflüchteten in der Türkei insgesamt besser zu verstehen, ist es notwendig, sich mit den entsprechenden Bestimmungen des türkischen Asylrechts auseinanderzusetzen. Da die bereits vor der Krise vorhandenen Gesetze nicht ausreichend waren, um die stetig wachsende Einwanderungsbewegung in den Griff zu bekommen, sah sich die Türkei gezwungen, Reformen einzuführen (vgl. Ekşi, 06.07.2016). Am 11. April 2014 wurde schließlich das sogenannte „Gesetz über Ausländer und internationalen Schutz (Nr. 6458)“ (türk.: Yabancılar ve Uluslararası Koruma Kanunu)[5] vollständig rechtswirksam, wobei die meisten Bestimmungen bezüglich institutioneller Umstrukturierung bereits am 4. April 2013 in Kraft traten (vgl. Çiçekli 2016: 75). Konnten syrische Flüchtlinge in der Türkei zuvor keinen Flüchtlingsstatus erhalten und wurden sie nur als „Gäste“, die wieder in ihr Heimatland zurückkehren würden, bezeichnet und auch dementsprechend behandelt, so hat sich dies nun mit der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 6458 geändert. Dennoch bleibt zu beachten, dass die Türkei weiterhin am geographischen Vorbehalt der Genfer Flüchtlingskonvention festhält. Hinsichtlich der Krisensituation durch den syrischen Bürgerkrieg war es also notwendig geworden, den rechtlichen Status der Flüchtenden zu überarbeiten. Daraus ergeben sich die im Folgenden erklärten Definitionen, wie sie in der englischen Version des Gesetzes[6] festgehalten sind. Hierbei definiert Artikel 61, welche Bedingungen an den Erhalt des Flüchtlingsstatus geknüpft sind:

A person who as a result of events occurring in European countries and owing to well-founded fear of being persecuted for reasons of race, religion, nationality, membership of a particular social group or political opinion, is outside the country of his citizenship and is unable or, owing to such fear, is unwilling to avail himself or herself of the protection of that country; or who, not having a nationality and being outside the country of his former residence as a result of such events, is unable or, owing to such fear, is unwilling to return to it, shall be granted refugee status upon completion of the refugee status determination process. (MOI 2014: 64)

 

Wie bereits zu Beginn des Artikels erwähnt wird, muss eine Person, die als Flüchtling anerkannt werden soll, vor Ereignissen fliehen, die sich in einem europäischen Land zugetragen haben. Hier wird die Anwendung des geographischen Vorbehalts aus der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 deutlich. Somit gilt Artikel 61 nicht für syrische Bürgerkriegsflüchtlinge. Artikel 62 hingegen definiert den Erhalt des Status „bedingter Flüchtling“:

A person who as a result of events occurring outside European countries and owing to well-founded fear of being persecuted for reasons of race, religion, nationality, membership of a particular social group or political opinion, is outside the country of his nationality and is unable or, owing to such fear, is unwilling to avail himself or herself of the protection of that country; or who, not having a nationality and being outside the country of former habitual residence as a result of such events, is unable or, owing to such fear, is unwilling to return to it, shall be granted conditional refugee status upon completion of the refugee status determination process. Conditional refugees shall be allowed to reside in Turkey temporarily until they are resettled to a third country. (MOI 2014: 64–65)

 

Hier wird ersichtlich, dass sich Artikel 61 und 62 des Gesetzes auch in Bezug auf den geographischen Herkunftsraum des Flüchtenden unterscheiden. Während ein offizieller „Flüchtling“ aus einem europäischen Land geflohen sein muss, so gilt als „bedingter Flüchtling“, wer unter denselben restlichen Voraussetzungen aus einem außereuropäischen Land geflohen ist. „Bedingte Flüchtlinge“ werden außerdem nur auf bestimmte Zeit aufgenommen mit dem Ziel, diese in ein Drittland umzusiedeln. Artikel 63 bezieht sich schließlich auf den Status des „subsidiären Schutzes“:

A foreigner or a stateless person, who neither could be qualified as a refugee nor as a conditional refugee, shall nevertheless be granted subsidiary protection upon the status determination because if returned to the country of origin or country of [former] habitual residence would: a) be sentenced to death or face the execution of the death penalty; b) face torture or inhuman or degrading treatment or punishment; c) face serious threat to himself or herself by reason of indiscriminate violence in situations of international or nationwide armed conflict; and therefore is unable or for the reason of such threat is unwilling, to avail himself or herself of the protection of his country of origin or country of [former] habitual residence. (MOI 2014: 65–66)

 

Dieser Artikel 63 ist, wie oben beschrieben, geographisch nicht eingeschränkt und damit Ausländern und staatenlosen Personen vorbehalten, die die Bedingungen aus Artikel 61 oder 62 nicht erfüllen, aber dennoch auf Schutz angewiesen sind. Zuletzt bleibt Artikel 91(1), der den Status des „temporären Schutzes“ definiert:

Temporary protection may be provided for foreigners who have been forced to leave their country, cannot return to the country that they have left, and have arrived at or crossed the borders of Turkey in a mass influx situation seeking immediate and temporary protection. (MOI 2014: 93)

 

Dieser Artikel bezieht sich ganz klar auf die Masseneinwanderung in die Türkei durch den syrischen Bürgerkrieg und sollte somit auf alle syrischen Flüchtenden angewendet werden, die die türkische Grenze passieren oder entlang derer festsitzen. Folglich bilden sowohl das Gesetz über Ausländer und internationalen Schutz von 2013 als auch die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 die Basis für die aktuelle türkische Flüchtlingspolitik (vgl. Ekşi, 06.07.2016). In Bezug auf die Vorwürfe gegenüber der türkischen Regierung, sie schiebe syrische Flüchtende wieder nach Syrien ab, ist zudem folgender Bestandteil des AFIP interessant: Das Prinzip des non-refoulement. Dazu heißt es in Artikel 4 des AFIP:

No one within the scope […] of this Law shall be returned to a place where he or she may be subjected to torture, inhuman or degrading punishment or treatment or, where his/her life or freedom would be threatened on account of his/her race, religion, nationality, membership of a particular social group or political opinion. (MOI 2014: 93)

 

Die genannten Punkte treffen im Falle des syrischen Bürgerkriegs auf die Flüchtenden zu und damit ist es der türkischen Regierung verboten, Syrer in ihr Heimatland abzuschieben. Erwähnung findet dasselbe Prinzip auch in anderen Konventionen: Erstens, in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, die besagt, dass kein Staat einen Flüchtling in ein Land zurück schicken oder ausweisen darf, in dem sein Leben oder seine Freiheit aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Meinung gefährdet sind. Zweitens, in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, in dem steht, dass niemand der Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt werden soll. Und drittens, in der EU-Charta der Grundrechte, die das Prinzip des non-refoulement als grundlegendes Menschenrecht bestätigt (vgl. Çiçekli, 2016).

Damit würde die Türkei nicht nur entgegen ihrer eigenen anerkannten Gesetze handeln, sondern auch entgegen der Europäischen Menschenrechtskonvention, die im Jahr 1950 beschlossen und unter anderem auch von der Türkei unterzeichnet wurde (vgl. EUKON).

 

Zur Lage auf den griechischen Inseln

Eine andere Katastrophe spielt sich tagtäglich an der türkischen Mittelmeerküste ab. Mit dem Ziel „Europa“ vor Augen wagen schon seit langem immer wieder Flüchtende die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer nach Griechenland. Organisiert von sogenannten Schleppern bezahlen Flüchtende meist einen sehr hohen Preis für diese Überfahrt. Obwohl die griechischen Inseln oft in Sichtweite liegen, kann diese Fahrt lebensgefährlich sein. Wie die BPB berichtet, starben im Jahr 2015 etwa 3000 Flüchtende bei dem Versuch, Europa über den Seeweg zu erreichen (vgl. Şimşek, 06.07.2016). Dabei stützt man sich auf Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Doch mit der illegalen Überfahrt nach Europa soll nun Schluss sein: Um die Zahl der über die Türkei nach Griechenland und schließlich nach Europa kommenden Flüchtenden zu reduzieren, schloss die Europäische Union am 18. März 2016 ein Abkommen mit der türkischen Regierung, den sogenannten „EU-Türkei-Deal“.

 

Der EU-Türkei-Deal

Seit dem InKrafttreten des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei am 18. März 2016 sitzen tausende Flüchtende auf den griechischen Inseln fest. Ihr Traum von der Weiterreise auf das europäische Festland ist geplatzt. Ihnen bleibt nur die Rückkehr in die Türkei, sollte ihr Asylantrag von den völlig überforderten griechischen Behörden abgelehnt werden. Und da die EU die Türkei als „sicheres Drittland“ bezeichnet, scheint die Chance auf eine Genehmigung gering, denn zu beweisen gilt es nicht nur die Gefahr im eigenen Heimatland, sondern auch die in der Türkei (vgl. Margaronis 2016: 24). Die EU scheint also ihr Ziel erreicht zu haben: die Masse an Flüchtenden in die EU zu stoppen. In der Tat soll die Anzahl der Überfahrten von der türkischen Westküste nach Griechenland stark abgenommen haben. Von offizieller Seite heißt es:

On 18 March, […] the European Union and Turkey decided to end the irregular migration from Turkey to the EU. Yesterday's agreement targets the people smugglers' business model and removes the incentive to seek irregular routes to the EU, in full accordance with EU and international law. (EUCOM, 19.03.2016)

 

Bei Human Rights Watch drückt man sich folgendermaßen aus:

An agreement, which went into effect in March 2016, between the EU and Turkey provides that many Syrian asylum seekers in Greece could be returned to Turkey without EU evaluation of their original protection claims concerning conditions in their home countries because Turkey is a “safe third country” or “first country of asylum” for them. “Safe” for the purposes of this analysis means more than being safe from war or persecution. It means that an individual refugee has protected rights in line with the Refugee Convention, including the rights to work, health care, and education. (HRW, 20.06.2016)

 

Dass dies in der Türkei noch nicht der Regelfall für jeden Geflüchteten ist, wurde bereits erläutert. Bleibt die Frage: Auf welche Bedingungen haben sich EU und Türkei also genau geeinigt? In der Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 19. März 2016 heißt es:

The EU and Turkey agreed that:
1) All new irregular migrants crossing from Turkey to the Greek islands as of 20 March 2016 will be returned to Turkey;
2) For every Syrian being returned to Turkey from the Greek islands, another Syrian will be resettled to the EU;
3) Turkey will take any necessary measures to prevent new sea or land routes for irregular migration opening from Turkey to the EU;
4) Once irregular crossings between Turkey and the EU are ending or have been substantially reduced, a Voluntary Humanitarian Admission Scheme will be activated;
5) The fulfilment of the visa liberalisation roadmap will be accelerated with a view to lifting the visa requirements for Turkish citizens at the latest by the end of June 2016. Turkey will take all the necessary steps to fulfil the remaining requirements;
6) The EU will, in close cooperation with Turkey, further speed up the disbursement of the initially allocated €3 billion under the Facility for Refugees in Turkey. Once these resources are about to be used in full, the EU will mobilise additional funding for the Facility up to an additional €3 billion to the end of 2018;
[…]
9) The EU and Turkey will work to improve humanitarian conditions inside Syria.

 

Zunächst ist zu sagen, dass Geflüchtete auf den griechischen Inseln nicht sofort abgeschoben werden können, sondern die Möglichkeit haben, einen Asylantrag zu stellen. Dieser sollte möglichst schnell geprüft und abgeschlossen werden. Alle abgelehnten Asylanträge sollten eine Rückführung in die Türkei zur Folge haben. Doch was in der Theorie anwendbar erscheint, erweist sich nun in der Praxis als eine Art humanitäre Katastrophe.

 

Folgen des Deals

Die negativen Folgen des vielversprechenden Abkommens zwischen der EU und der Türkei bekommen vor allem die Geflüchteten in Griechenland zu spüren: Viele von ihnen sitzen in überfüllten Flüchtlingslagern fest, den sogenannten „Hot Spots“, wo sie angeblich registriert werden sollen; doch ihnen fehlt es an Informationen, Nahrung, ärztlicher Versorgung und Sicherheit (vgl. Margaronis 2016: 25). Auf der Insel Lesbos, beispielsweise, befinden sich laut einem aktuellen Bericht der französischen Zeitung Le Monde derzeit 5650 Flüchtende, jedoch gibt es nur für 3500 Personen Unterkünfte. Seit dem Inkrafttreten des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Türkei säßen die Flüchtenden dort fest; der Großteil von ihnen habe zwar Asyl beantragt, doch könne die Bearbeitung Monate dauern. Lediglich 502 Personen seien in den vergangenen sechs Monaten in die Türkei abgeschoben worden (vgl. LEMO, 20.09.2016). Eine vergleichsweise geringe Zahl, könnte man denken, wenn von einer Gesamtzahl von etwa 13536 Geflüchteten auf den Inseln in der Ägäis (vgl. Smith, 20.09.2016) die Rede ist. Dennoch muss in Betracht gezogen werden, dass die Türkei zum Beispiel von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International als nicht sicheres Drittland erachtet wird, anders als von der EU. Auch der FOCUS berichtet aktuell von 509 Abgeschobenen und einer schleppenden Rückführung in die Türkei: Griechische Richter sollen immer wieder Asylanträge genehmigt haben mit der Begründung, die Flüchtenden seien in der Türkei nicht sicher (vgl. FOC, 24.09.2016). Dies ist eine Tendenz, die ein Scheitern des EU-Türkei-Deals andeuten könnte. Auch weitere Inseln in der Ägäis sind von den Folgen des Deals betroffen. Die griechische Insel Chios sei ein „Open-Air-Gefängnis“, wie Margaronis (2016: 24) die Heimatinsel ihres Großvaters bezeichnet. Das Lager „Vial“ auf Chios, von dem auch die Hürriyet berichtete, sei eigentlich eine unbenutzte Aluminiumfabrik, die nun einem Gefängnis gleiche: Da der UNHCR sowie viele weitere NGOs sich weigern, in solch geschlossenen Zentren zu arbeiten und Freiwilligen der Zugang verwehrt wird, kümmere sich nun das Militär um die Versorgung der Geflüchteten, allerdings mehr als ungenügend (vgl. Margaronis 2016: 25).

[Food] […] generally consists, the inmates say, of “macaroni, potatoes, macaroni, potatoes.” Some of the portions had maggots. […] Some detainees made a hole in the back fence, trampling crops and stealing chickens, eggs, and beans from nearby villages. A sheep was reportedly slaugtered and roasted on a spit. Fights broke out between Afghans and Syrians armed with stones, bottles, and razor blades; the police let it rage for an hour before intervening. (Margaronis 2016: 25)

 

Margaronis berichtet außerdem von dem Tag, an dem sich auf Chios etwas entscheidend veränderte:

On March 31, a protest against the conditions at Vial by local people, volunteers, and activists brought the refugees out to meet them, shouting “Freedom,” “Asylo,” and “No Tourkia.” The next day, Halevi [a palestinian refugee from Syria] joined 400 or 500 others who broke out of Vial for good: They walked the two hours to town and sat down at the port, refusing to be moved. (Margaronis 2016: 25)

 

Wie im übersetzten Artikel der Hürriyet beschrieben, ist ein Teil des besetzten Hafens auf der Insel Chios nun zu einem illegalen Camp geworden. Im Zuge dieser Proteste stellt auch der Slogan „Nein Türkei“ ein knappes, aber klares Statement der Flüchtenden dar und beweist einmal mehr, dass die Türkei nicht für eine so große Masse an Migranten sorgen kann. Die Tatsache, dass der Hafen von Chios von Flüchtenden besetzt wird, zeigt ebenso, wie aussichtslos die Lage auf den griechischen Inseln ist. Auch auf dem Festland sieht es nicht besser aus: Noch vor Abschluss des Deals seien circa 46 000 Flüchtende gestrandet, die jetzt in provisorisch errichteten Camps wie Zeltstädten, leeren Hotels oder in Containern leben (vgl. Margaronis 2016: 26). Viel haben sie nicht mehr, und die Lebensumstände in den Camps sind teils menschenunwürdig:

It’s cold at night, and the ground is hard, and there are seven people sleeping there, including children. […] [T]he tents are pitched on sharp white gravel that lets snakes and scorpions in. […] [T]he drainage is bad and […] children defecate outside, fouling the puddles where they play. The toilets are the wrong kind—sit-down Western ones rather than the hygienic squat variety used in the Middle East—so women get infections. (Margaronis 2016: 27)

 

Die Lage auf den griechischen Inseln erscheint chaotisch, gar katastrophal. Solange tausende Flüchtende auf eine Antwort ihres Asylantrags warten, werden sie dort festsitzen. Diejenigen, die keinen Antrag stellen konnten oder die entsprechenden Papiere auf der Flucht verloren haben, könnten wie abgemacht zurück in die Türkei geschickt werden. Und die prekäre Situation in den Camps wird sich ohne die Hilfe der NGOs wohl kaum in absehbarer Zeit bessern.

 

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[1] UNHCR, 20.06.2016. „Global Trends – Forced Displacement in 2015“. http://www.unhcr.de/no_cache/service/zahlen-und-statistiken.html?cid=11687&did=10824&sechash=c1e47294 (zuletzt überprüft am 13.09.2016).

[2] Amnesty International, 03.06.2016. „Türkei: Ungenügender Schutz für Flüchtlinge“. https://www.amnesty.de/2016/6/3/tuerkei-ungenuegender-schutz-fuer-fluechtlinge (zuletzt überprüft am 13.09.2016).

[3] Webseite der Katastrophenschutzbehörde AFAD: https://www.afad.gov.tr/tr (zuletzt überprüft am 10.11.2016).

[4] Ein Land, das die sogenannte „Politik der offenen Tür“ (engl.: open door policy) anwendet, erlaubt allen Menschen und Gütern auf einfachem Wege einzureisen bzw. einzuwandern (vgl. Macmillan Dictionary, http://www.macmillandictionary.com/dictionary/british/open-door-policy, zuletzt überprüft am 17.11.2016).

[6] Ministry of Interior. 2014. „Law on Foreigners and International Protection“. http://www.goc.gov.tr/files/files/eng_minikanun_5_son.pdf (zuletzt überprüft am 29.09.2016).