Einordnung
Einleitung
Angesichts der aktuellen Ereignisse in der Türkei gewinnt das bislang umstrittene Türkei-EU Abkommen an erneuter Brisanz und Aktualität. Der gescheiterte Putschversuch in der Türkei und die darauffolgenden restriktiven Maßnahmen der Erdoğan-Regierung, vor allem zahlreiche Festnahmen und Inhaftierungen türkischer Beamter, ließen die Diskussionen um das umstrittene Abkommen wieder neu aufkommen.
Der Zusammenhang (des Kommentars) zum Syrienkonflikt besteht vor allem in der aus ihm resultierenden „Flüchtlingskrise“ und damit dessen Auswirkungen auf internationaler Ebene, sowohl im politischen als auch gesellschaftlichen Bereich.
„Oberstes außenpolitisches Ziel [des Libanon] ist es zu verhindern, dass die unterschiedlichen Konfliktparteien den syrischen Bürgerkrieg in den Libanon tragen. Doch die ansteigende Zahl an syrischen Flüchtlingen bergen ein immenses Konfliktpotential […]“ (Munoz-Perez/Phil 2015: 185).
Libanesische Medien
Entsprechend der konfessionellen und ausgeprägten ethnischen Heterogenität des Libanon, die in der Geschichte des Staates bereits zu zahlreichen Konflikten führte, ist auch die Medienlandschaft sehr vielfältig und differenziert. Die meisten Medien im Libanon sind im Besitz lokaler oder regionaler Kräfte bzw. werden von ihnen geführt oder finanziell unterstützt (Dabbous 2010: 722). So dienen die Medien den einzelnen Parteien bzw. den verschiedenen Fraktionen als öffentliches Sprachrohr. Sie sind also immer parteiisch und repräsentieren in ihrer jeweiligen Zugehörigkeit die Spaltung in zwei große Fraktionen, die anti-syrische „14. März-Allianz“ und die pro-syrische „8. März-Allianz“, die sich nach dem Abzug der syrischen Besatzungsmacht 2005 und der Ermordung Rafiq al-Hariris bildeten (Munoz-Perez/Phil 2015: 184, Dabbous 2010: 719-724). Im Libanon lassen sich 110 lizensierte politische Publikationen ausmachen, die in ihrer Qualität stark differieren (Dajani 2013: 2).
Die Tageszeitung An-Nahār und der Autor des Artikels
Die Tageszeitung An-Nahār gilt zusammen mit der As-Safīr als Meinungsführer und eine der auflagenstärksten Tageszeitungen im Libanon, wobei zu erwähnen ist, dass die Auflagenzahlen libanesischer Zeitungen vergleichsweise gering ausfallen. Die auflagenstärksten Zeitungen kommen auf höchstens 10.000 und durchschnittlich 7.000-8.000 Exemplare (Nötzold 2015: 219).
Die An-Nahār war von Anfang an ein Familienunternehmen, das 1933 von Dschibran Tueni gegründet wurde. Später übernahmen sein Sohn Ghassan und sein Enkel Dschibran erfolgreich die Leitung der Tageszeitung. Die An-Nahār ist in ihrer regliösen Ausrichtung griechisch-orthodox, politisch gilt sie als unabhängig moderat und mehr als alle anderen Zeitungen als Syrien-kritisch. Sie wird auch heute noch vornehmlich von einer christlichen Leserschaft rezipiert (Rugh 2004: 91f, Müller-Funk 2010: 49).
Im Herbst 1976 besetzten die syrischen Truppen der ADF (Arab Deterrent Forces) mehrere Nachrichtenagenturen, unter anderem das Büro der An-Nahār und der pro-libanesischen Tageszeitung As-Safīr. Schon nach einigen Wochen war es den verbotenen Zeitungen wieder möglich zu veröffentlichen, zeitgleich hatte die syrische Regierung ihnen jedoch eine Vorzensur auferlegt (Rugh 2004: 95). Im Zuge der Proteste gegen die syrische Besatzungsmacht kam es vermehrt zu politisch motivierten Morden an Journalisten, darunter auch der An-Nahār Journalist, Samir Kassir und der An-Nahār Chefredakteur Dschibran Tueni (Dezember 2005). Aufgrund der kritischen Haltung Tuenis gegenüber der syrischen Präsenz im Libanon gehen viele davon aus, dass Syrien für die Anschläge verantwortlich ist. Infolge des Mordes an Dschibran übernahm sein 81-jähriger Vater erneut die Leitung der Zeitung. In den 1990er Jahren verlor die An-Nahār mit der Mitgliedschaft des Verlegers in der Regierung in ihrer oppositionellen Rolle an Gewicht. Während sie heute die Hizbollah-Opposition publizistisch zwar unterstützt, fungiert sie doch als Sprachrohr der prowestlichen Regierungskräfte. Die Tageszeitung ist dem 14.März-Bündnis zuzuordnen (Müller-Funk 2010: 48). Die Leserschaft der An-Nahār gehört dementsprechend zur anti-syrischen parlamentarischen Mehrheit, von den USA, der EU und den arabischen Golfstaaten unterstützt (Santini et al. 2010: 61).
Mohammad Namar, der Autor des vorliegenden Artikels, schreibt vor allem in den Rubriken „Politik“, „Die Arabische Welt“ und „Lokales“.
Einordnung des Artikels/Anmerkungen
Der Artikel ist durch die Zwischenüberschrift „Auswirkungen“ in zwei große Abschnitte eingeteilt, wobei darin mehrere Sinnabschnitte auszumachen sind. Grundsätzlich ist anzumerken, dass der Artikel verschiedene Fragen stellt, die vor allem die Auswirkungen des Türkei-EU Abkommens für die Situation bzw. Anzahl der Flüchtlinge im Libanon und die Möglichkeit, eine ähnliche Vereinbarung mit der EU auszuhandeln, betreffen und anhand von Zitaten des libanesischen Sozialministers Rašīd Derbās und des Wirtschaftsexperten Ghāzī Waznī beantwortet werden. In der Auswahl der Personen, die zu Wort kommen, lässt sich die zuvor erwähnte Nähe der Zeitung zum libanesischen Parlament erkennen.
Gleich zu Beginn des Kommentars stellt der Autor, Muhammad Namar, den Libanon im Vergleich zur Türkei als ein kleines und schwaches Land dar, das die internationale Gemeinschaft vergeblich um Hilfe anfleht. Das Türkei-EU-Abkommen wird an dieser Stelle eher negativ bewertet; so heißt es, die Türkei habe sich das Abkommen und die damit zusammenhängenden finanziellen Zusagen und politische Annäherung der EU „erschlichen“. Das hierfür verwendete arabische Verb ḫaṭafa ist sehr negativ konnotiert und bedeutet so viel wie „rauben“ oder „jmdn. etw. entreißen“.
Im darauffolgenden Teilabschnitt geht der Autor auf die Anschläge in Paris und deren Auswirkungen auf Europa ein, die sich für ihn vor allem in der Wahrnehmung der syrischen Flüchtlinge als Terroristen sowie als wirtschaftliche und gesellschaftliche Belastung und in der damit zusammenhängenden wachsenden rechtsextremen Szene in einzelnen europäischen Staaten manifestieren. Der Autor nimmt demnach auch Bezug zu den Entwicklungen innerhalb Europas, die nicht in direktem Zusammenhang mit dem eigenen Land stehen, jedoch als Auswirkungen des Syrienkonflikts gewertet werden können.
Bedenkt man, dass der übersetzte Artikel schon fünf Tage nach der Erklärung des Abkommens zwischen der EU und der Türkei veröffentlicht wurde, so ist die anschließende Bemerkung, dass sich die Umsetzung der Vereinbarung nach wie vor als schwierig gestaltet, möglicherweise etwas frühzeitig getroffen. Ein Blick in die spätere Berichterstattung jedoch lässt erkennen, dass die Umsetzung des Abkommens – mehreren deutschsprachigen Pressemeldungen zufolge – auch Monate später tatsächlich nur sehr schleppend voranging. So weist eine Kurzmeldung der „Deutschen Welle“ darauf hin, dass die Hilfe für Griechenland längst nicht in dem versprochenen Umfang umgesetzt wurde, vor allem was die Unterstützung durch verschiedene Experten (Asyl-Experten, Dolmetscher und Juristen) betrifft (SC/cr., Deutsche Welle). Außerdem sei die bisherige Zahl der Abschiebungen von den Ägäis-Inseln in die Türkei deutlich geringer als erwartet und die dazu notwendigen Verfahren bräuchten erheblich länger (Riegert 2016).
Der im letzten Abschnitt des ersten Teils erwähnte Besuch der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Frederica Mogherini hatte vor allem die Vertiefung der „starken“ EU-Libanon Beziehungen und die Diskussion um die gemeinsame Herausforderung im Syrienkonflikt, den Schutz und die Unterbringung der Flüchtlinge und den Kampf gegen den Terrorismus zum Ziel. Mogherini traf sich dazu mit den politischen Führern Libanons und besuchte das Flüchtlingscamp Bar Elias in der Bekaa-Ebene. Auf einer dem Treffen mit dem libanesischen Premierminister Tammam Salam folgenden Pressekonferenz betonte sie die starke Beziehung und langanhaltende Freundschaft zum Libanon;
„[…]we both are working hard in these very difficult times for our region. I say our region because we share the region, starting from the security situation, the threats that are posed to Lebanon but also to all of the Mediterranean and Europe.” (EEAS 03.2016).
Während Mohammad in seinem Kommentar moniert, dass Mogherini für die Zusage von Hilfsleistungen keine konkreten Angaben lieferte, soll sie zumindest auf der oben erwähnten Pressekonferenz von einer Erhöhung der finanziellen Unterstützung um 1,5 Milliarden gesprochen haben. Zu bemerken ist hierbei, dass Namar lediglich von der finanziellen Unterstützung schreibt. Die versprochene politische Unterstützung der EU zur Stabilisierung staatlicher Institutionen, die Notwendigkeit, einen Präsidenten zu wählen, und die Kooperation mit dem Libanon, um Syrien aus der Krise zu helfen und die syrische Bevölkerung auf humanitärer Ebene zu unterstützen, erwähnt er nicht (Ebd.). Dies entspricht den Beobachtungen in der wissenschaftlichen Literatur, dass in der libanesischen Wahrnehmug vor allem die wirtschaftliche Stärke der EU im Mittelpunkt steht (Vgl. Santini et al. 2010).
Anschließend kommt der libanesische Sozialminister Rašīd Derbās zu Wort, der versichert, dass das Abkommen keine bedeutenden Auswirkungen auf den Libanon haben werde und ein solches auch keine Option für den Libanon sei, da für ihn die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Länder Priorität sei. Auf diese Ansicht gründet der ungenau bestimmte Status der syrischen Flüchtlinge, die keinen eigentlichen Flüchtlingsstatus mit den entsprechenden Rechten bekommen, sondern lediglich als vorübergehende „Gäste“ aufgenommen werden. Damit bleibt den meisten eine nachhaltige Integration in die Gesellschaft verwehrt, was sich als äußerst problematisch erweist, wenn man bedenkt, dass es Jahre dauern kann bis Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren können, wenn überhaupt (Fargues 2014: 3).
Im gesamten zweiten Teil des Kommentars lässt Namar den Wirtschaftsexperten Ghāzī Waznī zu den Auswirkungen des Abkommens für den Libanon zu Wort kommen. Ebenso wie Derbās erwartet dieser keine bemerkenswerten Auswirkungen auf den Libanon durch das Abkommen. Er stellt die Verhandlungen der Türkei mit der EU im Rahmen des Abkommens als ein Ausnutzen der Situation zum eigenen Vorteil dar und bewertet das Verhalten der Türkei eher negativ. Nachdem er die Anzahl der syrischen Flüchtlinge in der Türkei, dem Libanon und Jordanien aufführt, geht er auf die Schließung der libanesischen Grenzen ein. Grundsätzlich wird die libanesische Politik gegenüber den syrischen Flüchtlingen als positiv für den Libanon bewertet. Waznī äußert indirekt zwar Kritik an Europas Verhalten, das schnell von einem Willkommensprojekt zu Begrenzungsmaßnahmen überging. Gleichzeitig lässt sich jedoch Verständnis für das Agieren der EU herauslesen – angesichts der von ihm als enorm eingeschätzten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten.
Die Macht der Türkei sieht Waznī vor allem in ihrer geografischen Lage, da sie über weitläufige Grenzen zu Griechenland verfügt. Dementsprechend beschreibt der Europäische Auswärtige Dienst die Türkei als Schlüsselpartner für die EU: zum einen aufgrund ihrer Nato- und G20-Mitgliedschaft und nicht zuletzt wegen ihrer strategischen Lage (EEAS „EU relations with turkey”). Trotz der eher negativen Bewertung der türkischen Politik meint er, der Libanon solle sich die gegebene Situation gleichermaßen zu Nutzen machen.
Am Ende des Artikels mahnt Waznī an, dass der Libanon nicht in der Lage sein werde die Krise finanziell und gesellschaftlich zu tragen, wenn nicht die entsprechende finanzielle Unterstützung geleistet würde. Er schätzt die jährlichen Kostenaufwendung für die syrischen Flüchtlinge auf 4,5 Milliarden US-$ und weiß schon jetzt, dass der Libanon die für das Jahr 2016 geforderte Summe nicht in ihrem vollen Ausmaß erhalten wird. Dementsprechend schreibt auch der ägyptische Journalist und Nahost-Korrespondent Karim El-Gawhary in einem Artikel am 18.09.15 zur europäischen Flüchtlingspolitik, dass das UN-Flüchtlingshilfswerk mindestens 4,5 Milliarden US-$ bräuchte um eine Grundversorgung für die Flüchtlinge leisten zu können, zu dem gegebenen Zeitpunkt jedoch weniger als 40% dieses Betrages gezahlt wurden. El-Gawhary vertritt in seinem Artikel eine ähnliche Ansicht wie die des übersetzten Kommentars von Mohammad Namar. Er schreibt von einer positiven Resonanz auf die, vor allem mit Merkel assoziierte, Willkommenskultur in der arabischen Welt. Gleichzeitig kritisiert er jedoch Stimmen, die von einem vollen Boot in Europa sprechen, aufs Schärfste. In Anbetracht der hohen Anzahl von Flüchtlingen im Libanon, deren Bevölkerungsanteil auf Deutschland umgerechnet auf 20 Millionen käme, beschreibt er die Situation in Europa als eine „Mini-Krise“(El Gawhary 2015).