Analyse des Artikels
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Analyse des Evrensel-Artikels
Die Zeitung Evrensel im Visier staatlicher Stellen
Die Zielgruppe von Evrensel (türkisch: universal) sind Arbeiter und kurdische Aleviten in den ärmeren Bezirken Istanbuls (OSC 2008: 32). Aufgrund ihrer linken und pro-kurdischen Ausrichtung befindet sich die Zeitung seit ihrer Gründung im Jahr 1995 im Visier staatlicher Stellen. Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ dokumentiert mehrere Fälle von Verhaftungen, die Autoren oder Korrespondenten von Evrensel betreffen, z.B. den Kolumnisten Ragıp Zarakolu im November 2011 oder den Deutschland-Korrespondenten Hüseyin Deniz im September 2012 (ROG 2011/2012). Im Jahr 1996 wurde der Evrensel-Reporter Metin Göktepe nach seiner Verhaftung von Polizisten getötet (ROG 2016). Das ZEIT-Magazin vom 16. Juni 2016 dokumentiert 286 Fälle, in denen wegen Präsidentenbeleidigung gegen türkische Bürger vorgegangen wurde. Darunter sind auch fünf Fälle, in denen Mitarbeiter von Evrensel betroffen sind, z.B. Vural Nasuhbeyoğlu, der in einem Artikel das Verhalten Erdoğans während der Gezi-Proteste 2013 kritisierte.
Inhalt des Artikels
Der Evrensel-Artikel hält sich sehr eng an den Bericht von Human Rights Watch. Die ersten Absätze kommen einer Übersetzung des Berichts ins Türkische gleich. Das Zitat von Gerry Simpson wird originalgetreu wiedergegeben. Nicht erwähnt wird ein Abschnitt in dem HRW-Bericht, in dem über den Beschuss syrischer Flüchtlingscamps aus der Luft berichtet wird (HRW-Report 2016). Auch geht der Artikel nicht auf die im Bericht ausführlich beschriebenen Fälle in der Nähe der Grenzorte Ḫurbat al-Ğūz – Güveççi und al-Dūriya ein. Abweichend vom Bericht heißt es in dem Artikel, HRW-Mitarbeiter hätten die Zeugen getroffen, tatsächlich wurden die Gespräche aber telefonisch geführt. Ob diese Abweichung nur einer Ungenauigkeit geschuldet ist, oder eine Absicht dahinter steckt, lässt sich nur schwer beurteilen.
Wie der HRW-Bericht stellt auch der Evrensel-Artikel einen Zusammenhang zwischen den Schüssen an der Grenze und dem EU-Türkei-Abkommen her. Die Erläuterung des Abkommens ist wiederum eng an den HRW-Bericht angelehnt und auch das zweite Zitat von Gerry Simpson originalgetreu wiedergegeben.
Der Artikel ist eine knappe und korrekte Zusammenfassung des HRW-Berichts. Bei einer regierungskritischen Zeitung wie Evrensel stellt sich allerdings die Frage, warum die erschütternden Augenzeugenberichte nicht erwähnt werden. Möglicherweise ist dies als zu riskant empfunden worden angesichts der Verfolgung, der Evrensel-Mitarbeiter ausgesetzt sind.
Regierungskritische Aspekte des Artikels
Es ist nicht verwunderlich, dass sich der vorliegende Artikel eher vorsichtig positioniert. Das Medienecho auf die beschriebenen Vorfälle war in der Türkei eher gering. Insofern ist die Tatsache, dass Evrensel überhaupt darüber berichtet, in gewisser Weise ein Statement. Auffallend ist, dass dieser Artikel ein Foto aus einem von Human Rights Watch erstellten Video zeigt. Das Foto eines getöteten und blutüberströmten Menschen erzielt ein hohes Maß an Aufmerksamkeit beim Leser und soll gleichzeitig die Glaubwürdigkeit des Textes erhöhen.
Ihre pro-kurdische Haltung zeigt die Zeitung mit der ausdrücklichen Nennung des Namens „Rojava“ als Herkunftsgebiet der syrischen Flüchtlinge, die in der Nähe von Güveççi die Grenze zur Türkei überqueren wollten. Rojava ist die Bezeichnung kurdischer Organisationen für quasi autonome, überwiegend kurdisch besiedelte Gebiete in Nordsyrien. Am 17. März 2016 wurde die „Autonome Föderation Nordsyrien – Rojava“ bei einem Kongress von 150 Delegierten aller Bevölkerungsgruppen in Rumelan ausgerufen. In Rojava leben überwiegend Kurden, aber auch Araber, Christen und Turkmenen (Hackensberger, 17.03.2016). Das Gebiet besteht aus den drei Kantonen Efrîn, Kobanê und Cizîrê und grenzt an die Türkei (Weiss 2015:12). Die Streitkräfte Rojavas sind die Volksverteidigungseinheiten (YPG), die wiederum der kurdischen Arbeiterpartei PKK nahestehen (Witsch: 30.07.2015). Seit Juli 2015 ist der Konflikt zwischen der türkischen Regierung und der PKK eskaliert. Für die türkische Regierung ist ein autonomes kurdisches Gebiet direkt an der Landesgrenze eine Provokation. Seit dem 24. August 2016 kämpfen türkische Einheiten in Syrien. Die Operation „Schutzschild Euphrat“ hat neben der Bekämpfung der Terrormiliz IS das Ziel, die Einheiten der kurdischen YPG in die Region östlich des Euphrats zurückzudrängen (ZEIT Online, 25.08.2016).
Eine weitere Positionierung des Artikels zeigt die Zwischenüberschrift „An der Grenze geschieht Entsetzliches“. Zwar werden die Schilderungen von Opfern und Zeugen der Schüsse und Gewaltanwendungen an der Grenze in dem sachlich gehaltenen Artikel nicht erwähnt, doch durch die Hervorhebung der Zwischenüberschrift „An der Grenze geschieht Entsetzliches“ positioniert sich Evrensel auch emotional auf Seiten der Opfer und richtet einen eindeutigen Vorwurf an die türkische Regierung. Man kann sich unschwer vorstellen, dass bei einem ähnlich gelagerten Vorfall an der deutschen Grenze ein Aufschrei durch die Presse ginge. Dass dies in der Türkei nicht der Fall war, hängt sicher auch mit den Repressionen gegen die Pressefreiheit zusammen, denen die Beschäftigten im Medienbereich zunehmend ausgesetzt sind.
Vergleich mit der Berichterstattung der Online-Ausgabe der Hürriyet
Die Hürriyet ist mit rund 340.000 Exemplaren die auflagenstärkste Tageszeitung der Türkei (Medyatava). Die Zeitung gehört zur Doğan-Gruppe, einem der mächtigsten türkischen Großkonzerne (Sümer 2009: 674 – 675). Über die Vorfälle an der Grenze berichtet Hürriyet online unter der Überschrift „Militärische Quellen: Die Behauptungen des Berichts, den HRW erstellt hat, entsprechen nicht den Tatsachen“ (Hürriyet: „Askeri kaynaklar […]“, 11.05.2016). Der Artikel enthält eine Liste von zehn Punkten, die in dem HRW-Bericht angeblich eine Rolle spielten. Diese Liste beginnt mit der Feststellung, dass die Grenzsicherung im Rahmen der gültigen Gesetze erfolge. Es folgt eine Statistik über legale und illegale Grenzübertritte in dem Gebiet, von dem im HRW-Bericht die Rede ist, sowie eine Abhandlung über das Schlepperwesen an der türkisch-syrischen Grenze. Personen, die illegale Grenzübertritte versuchten, würden auf Türkisch und Arabisch ermahnt stehenzubleiben. Es werde nicht auf Menschen geschossen, die dieser Ermahnung folgten. Auch werde in diesem Fall keine Gewalt angewendet. Sollte es einmal zu Toten oder Verletzten kommen, werde dies von der Militärstaatsanwaltschaft untersucht. Erwähnt wird außerdem der Fall des Infanteriesoldaten Mustafa Uyğun, der bei einem Einsatz gegen organisierte Schlepper am 14. Februar 2016 in Görentaṣ ums Leben gekommen ist. Damit soll gezeigt werden, dass die Schlepper, die den syrischen Flüchtlingen zum illegalen Grenzübertritt verhelfen, brutale Kriminelle sind, bei deren Bekämpfung die Grenztruppen notfalls auch von der Waffe Gebrauch machen müssen. Über diesen Fall wurde in den türkischen Medien ausführlich berichtet. Auch die regierungskritische Cumhuriyet berichtete in ihrer Online-Ausgabe (Cumhuriyet: „23 yaşındaki asker […], 15.02.2016).
Tatsächlich ist von all diesen Dingen in dem HRW-Bericht aber an keiner Stelle die Rede. Auf die im Bericht detailliert aufgelisteten Vorfälle der Monate März und April 2016 (Punkt 1 und 5 dieses Kommentars) wird in diesem Artikel dagegen nicht eingegangen.
Laut Hürriyet bewerten die militärischen Quellen den HRW-Bericht als Versuch, die „an der Grenze heldenhaft und selbstlos ihre Pflicht erfüllenden Kräfte einzuschüchtern“ (Hürriyet: „Askeri kaynaklar […]“, 11.05.2016). Mit diesem idealisierenden Vokabular und dem Hinweis auf den Fall Uyğun soll die besondere Gefährlichkeit der Arbeit der Grenzschützer herausgestellt werden. Diese werden als selbstlose Helden dargestellt, die Schlepper und Flüchtlinge dagegen als Kriminelle, gegen die man vorgehen muss. So wird versucht, nicht nur die Opfer der Gewalttaten zu diskreditieren, sondern auch den gesamten HRW-Report, ohne auf diesen jedoch genauer inhaltlich einzugehen. Der Bericht stütze sich auf voreingenommene Aussagen von Personen, die organisierten Menschenschmuggel betrieben und auf unbegründete Behauptungen. Er sei mit Fotografien ausgeschmückt, die an anderen Orten aufgenommen worden seien. Belege für diese Behauptung werden in dem Artikel nicht vorgelegt.
Anders als Evrensel zitiert der Hürriyet-Artikel keine Aussagen von Gerry Simpson. Die Zeitung beruft sich ausschließlich auf militärische Quellen und positioniert sich so auf Seiten der Staatsmacht.
Vergleich mit der Berichterstattung von ZEIT-Online
Die ZEIT ist eine renommierte deutsche Wochenzeitung mit einer Auflage von ca. 500.000 Exemplaren (iq media II / 2016). In ihrer Online-Ausgabe vom 10. Mai 2016 schreibt die in Istanbul lebende Journalistin Zia Weise unter der Überschrift „Unter Beschuss“ über den HRW-Bericht. Im Gegensatz zu den beiden türkischen Artikeln kommen hier Augenzeugen zu Wort, z.B. der Anwalt Abdmunem Kaškaš, der Mitte April mit einer Gruppe von 20 Personen und einem Schleuser versuchte, über die Grenze zu kommen. Weise hat ihn in Gaziantep getroffen. Dieser Fall wird allerdings in dem HRW-Bericht nicht erwähnt. Es folgt ein weiterer kurzer Augenzeugenbericht über einen Vorfall, der im HRW-Report ausführlich geschildert wird und den ich hier in Auszügen direkt aus dem Report zitieren möchte, um die Grausamkeit der Vorfälle an der Grenze zu verdeutlichen:
“On Sunday, April 17, a smuggler took us at about 5 p.m. towards the border wall. Suddenly […] we heard automatic weapons fired from the direction of the wall and bullets landed all around us. The women started screaming and the children started crying, but the shooting continued. We all threw ourselves onto the ground, covering the children. I was lying close to my sister and my cousin, and the bullets hit them while we were lying down. They stopped screaming and shouting. I knew right away they had been killed.
A bullet also hit my right hand. My other cousin was also injured in his right hand. They also shot and injured his 9-year-old daughter in both her legs and his 5-year-old son in his right leg. I saw it happen.
The shooting lasted a long time. […] When we felt we were safe, we got up and walked the rest of the way. […] Someone found us and took us to a clinic there. My cousin and his children were missing and so was my mother and one of my brother’s children. […] I went back with four local men to find the others and to get the bodies of my sister and cousin.
As we approached the place where the bodies were, the Turkish police [sic] started shooting again. The villagers called the police and asked them to stop shooting while we got the bodies. […] One of the police […] said we had 15 minutes to move the bodies, after which they would start to shoot again. We picked up the bodies and carried them away from the wall as fast as we could. […] Later next morning, we buried them in the local cemetery. My sister and cousin both had bullet holes in their back. […] we won’t try and go back to Turkey. It’s too dangerous.” (HRW-Report, 10.05.2916).
Der ZEIT-Artikel fährt fort mit einer Zusammenfassung der von Human Rights Watch erhobenen Vorwürfe.
Darin folgt Weise der HRW-Argumentation und stellt die Vorfälle an der Grenze ebenfalls in Zusammenhang mit dem EU-Türkei–Abkommen. Dieses Abkommen werde angesichts sinkender Flüchtlingszahlen in Deutschland als ein Erfolg betrachtet und deshalb schweige die EU zu Berichten über Tote und Verletzte an der Grenze. Ein Grund für die sinkenden Zahlen sei auch, dass immer weniger Flüchtlinge den Weg in die Türkei schafften. Obwohl die Türkei behaupte, eine „open border policy“ zu führen, sei die Grenze faktisch geschlossen. Dies verstoße gegen die „Non-refoulement-Regel“, nach der es verboten sei, Asylsuchende in Lebensgefahr an der Grenze zurückzuweisen (Punkt 6.2 in diesem Kommentar). Auch Amnesty International und die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte hätten der Türkei vorgeworfen, Syrer an der Grenze erschossen zu haben (Weise: 10.05.2016).
Mit ihrem Artikel macht die Autorin deutlich, dass das Leid der Flüchtlinge im türkisch-syrischen Grenzgebiet mit der europäischen Politik zusammenhängt und dass die europäische Abschottungspolitik zu Lasten dieser hilflosen Menschen geht. In ihrer Argumentation steht sie damit dem Evrensel-Artikel nahe. Der ZEIT Online-Artikel zeigt, wie diese Position in einem Land mit Pressefreiheit dargestellt werden kann. Evrensel hat hier mit deutlich schlechteren Bedingungen zu kämpfen.
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