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Kontextualisierung

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Kontextualisierung

Zusammenfassung der Ereignisse

Schon vor dem weltweit bekannt gewordenen Giftgasangriff von Ghouta am 21. August 2013 häuften sich die Berichte über den Einsatz giftiger Chemikalien in Syrien. Der UN-Bericht vom 16. September 2013, der auch die Ergebnisse der Untersuchung in Ghouta enthält, datiert den frühesten aus Syrien gemeldeten Giftgasangriff auf den 19. März 2013. Der Angriff wurde dem Bericht zufolge der UN von der syrischen Regierung gemeldet und ereignete sich am frühen Morgen in Chan al-ʿAsal in der Provinz Aleppo. Unter den gemeldeten 25 Todesopfern und 110 Verletzten waren sowohl Zivilisten als auch Armeeangehörige. Zwei Tage später meldeten auch die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs Giftgasangriffe in der Region, und in einem Brief an die UN drei Monate später warfen die USA der syrischen Regierung die Verwendung von Sarin in Chan al-ʿAsal vor. Auf Anfrage der syrischen Regierung entsandten die UN und die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) daraufhin eine Expertenkommission, die den Auftrag bekam, dieser und weiterer Anschuldigungen nachzugehen, und am 18. August in Damaskus eintraf.

So kam es, dass die Expertenkommission der UN und OPCW nur einige Kilometer Luftlinie entfernt war, als am Morgen des 21. August in den Orten ʿIrbīn, ʿAin  Tarmā, Zamalkā und al-Muʿaddamiyya in der Region Ghouta westlich und östlich von Damaskus Raketen mit Saringas niedergingen. Der Artikel der al-Mustaqbal geht davon aus, dass der Zeitpunkt des Angriffs mit Absicht gewählt worden sei, weil die Wetterverhältnisse gewährleisteten, dass das Gas sich nicht so schnell in die Atmosphäre verflüchtigen konnte, sondern durch Luftströmungen zu Boden gedrückt wurde, und die meisten Menschen entweder noch in ihren Betten lagen oder gerade das Morgengebet verrichtet hatten. Die Anzahl der Todesopfer ist schwer zu beziffern – Schätzungen reichen von 355 bestätigten Toten in einem Bericht der Organisation Ärzte ohne Grenzen bis zu mehr als 1400 Toten nach Angaben der US-Regierung. Diese großen Unterschiede sind einerseits mit der unübersichtlichen Lage in Syrien und der damit verbundenen Schwierigkeiten für internationale Beobachter, die Orte zu erreichen, zu begründen, und andererseits damit, dass die Opfer auf mehrere Krankenhäuser in der Region verteilt wurden, die wiederum auf die große Anzahl an Patienten nicht vorbereitet waren. Die ebenfalls hohe Zahl der al-Mustaqbal mit 1127 – 1500 Toten bewegt sich im oberen Bereich des Spektrums und passt zur Forderung des Artikels, dass die internationale Gemeinschaft angesichts dieses Massakers endlich handeln und Assad stoppen müsse.
In den Tagen nach dem Angriff meldeten viele Mitgliedsstaaten den Angriff an die UN und forderten, dass die Untersuchung dieses Vorfalls vor den zuvor erhobenen Anschuldigungen Priorität haben müsse. Da es sich bei den betroffenen Ortschaften um von Rebellen besetztes oder umkämpftes Gebiet handelte, mussten zuerst sichere Korridore und Zeitspannen mit den beteiligten Kriegsparteien ausgehandelt werden, um den UN-Ermittlern Zugang zu den Einschlagsorten der Raketen zu gewähren, sodass die Experten erst am 26. August vor Ort sein und Spuren sammeln konnten. Diese Zeitspanne von fünf Tagen in einem Kriegsgebiet bot natürlich die Möglichkeit, Beweise zu vernichten oder zu verfremden (Hershey 2013: 5). Parallel führten Staaten wie die USA und Russland sowie humanitäre Organisationen wie Human Rights Watch eigene Untersuchungen durch, um die Schuldigen an dem Angriff zu bestimmen. So bildeten sich schnell zwei Lager: Auf der einen Seite standen diejenigen, die die Regierung Bashar al-Assads für schuldig hielten und eine militärische Reaktion in Betracht zogen, wie z.B. die USA, Frankreich und Großbritannien.[1] Die andere Seite, wie Russland, Iran und die syrische Regierung selbst, wollte solche Militärschläge verhindern und betonte, dass der Schuldige nicht genau festzustellen sei. Sie brachte stattdessen Rebellengruppen als Schuldige ins Gespräch, deren Plan es sei, genau so eine Reaktion des Westens herbeizuführen, wie sie die USA und ihre Verbündeten zeigten. Die beiden ausgewählten Artikel sind klar diesen beiden Lagern zuzuordnen: al-Mustaqbal ist von der Schuld der Assad-Regierung überzeugt und verlangt eine internationale Reaktion, während ad-Diyār russische Ansichten wiedergibt und amerikanische Militärschläge als abzulehnendes „Schreckgespenst“ bezeichnet.

Zu der angedrohten militärischen Reaktion kam es letzten Endes doch nicht, weil Russland und die USA einen alternativen Lösungsvorschlag aushandelten und als Resolution Nr. 2118 am 27. September 2013 im Sicherheitsrat verabschiedeten. Die Resolution sieht vor, dass Syrien der Chemiewaffenkonvention beitritt (was bereits am 14. September geschah) und sich an deren Bestimmungen hält, d.h. in Kooperation mit der internationalen Gemeinschaft sein gesamtes Chemiewaffenarsenal zerstört und nie wieder chemische Waffen benutzt. Sollte der Resolution nicht Folge geleistet werden, droht der Sicherheitsrat mit Maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta, das den Einsatz militärischer und nichtmilitärischer Mittel gegen UN-Mitglieder ermöglicht, die den Frieden auf der Welt bedrohen. Dem Generaldirektor der OPCW zufolge zeigte sich die syrische Regierung bei der Zerstörung ihres Chemiewaffenarsenals kooperativ (Fitzpatrick 2013: 5).

 

Die Schuldfrage

Der UN-Bericht vom 16. September 2013, der auch die Angriffe von Ghouta behandelt, benennt keine Schuldigen, sondern stellt nur fest, dass an jenem Tag (und bei anderen Vorfällen) Saringas benutzt wurde. Der Bericht stützt sich dabei u.a. auf Interviews mit Zeugen, Boden- und Haarproben von Betroffenen und Überreste von Raketen, die bei dem Angriff in Ghouta einschlugen. Es wird konstatiert: “The United Nations Mission collected clear and convincing evidence that chemical weapons were used also against civilians, including children, on a relatively large scale in the Ghouta area of Damascus on 21 August 2013” (UN-Bericht 2013: 19).

Der Report der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch geht in seiner Analyse der Ereignisse weiter. Anhand von Videos und Interviews via Skype und Telefon identifizierte die Organisation mithilfe von Waffenexperten die benutzten Raketen. So waren die in al-Muʿaddamiyya benutzten Raketen Waffen aus alten Sowjet-Beständen und bekanntermaßen im Besitz der syrischen Regierungstruppen, während kein Vorfall bekannt ist, in dem oppositionelle Gruppen Waffen dieser Bauart benutzt haben. Die in Zamalkā benutzten Raketen waren von einer unbekannten Bauart, die erst seit Ausbruch des Bürgerkriegs mehrere Male bei Angriffen auf von Rebellen besetzte Gebiete registriert wurden. Es ist kein Vorfall dokumentiert, in dem Rebellen diese Raketen benutzt haben, ebenso wenig wie die dafür benötigten iranischen Abschusssysteme. Beide Raketentypen könnten zwar auch mit konventionellen Sprengsätzen ausgestattet werden, jedoch fehlen dafür Einschlagkrater und mit einer Explosion verbundene Symptome. Darüber hinaus haben die Raketen nur eine begrenzte Reichweite, und in beiden Fällen liegen militärische Einrichtungen der Regierungstruppen innerhalb der möglichen Abschusszone. Die Waffensysteme, mit denen der Angriff durchgeführt wurde, sprechen also für eine Täterschaft der syrischen Regierung (Human Rights Watch 2013).
Der Bericht von Human Rights Watch nennt noch weitere Indizien dafür, dass die syrische Regierung für den Giftgasangriff auf Ghouta verantwortlich ist. Erstens handelte es sich bei dem Angriff um eine großangelegte, koordinierte Attacke auf von Rebellen besetzte Gebiete, in deren Umkreis sich wichtige militärische Basen der Regierungstruppen befinden. Dies spricht gegen die These, dass es sich um einen Unfall gehandelt haben könnte, bei dem Rebellen aus Versehen aufgrund mangelnder Fachkenntnis eroberte Raketen ausgelöst haben. Zweitens benötigt man besonders für die Raketen, die beim Angriff auf West-Ghouta benutzt wurden, große Mengen an Sarin (jeder Sprengkopf fasst 50-60 Liter), das dem Bericht zufolge nur mit geschultem Personal und spezieller Ausstattung in die Raketen gefüllt werden kann. Diese Dinge sind deutlich wahrscheinlicher bei einer ausgebildeten Armee zu finden als bei Rebellengruppen.

In einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender Fox News argumentiert Bashar al-Assad gegen diese Vorwürfe. Wie auch der Artikel der ad-Diyār sagt er, dass die Herstellung von Sarin nicht schwierig sei und prinzipiell von jedem, der die richtige Rezeptur und die passenden Zutaten besitzt, in der heimischen Küche hergestellt werden könne. Außerdem sei es in einer Kriegssituation wie in Syrien auch möglich, dass chemische Waffen von externen Akteuren an bestimmte Rebellengruppen geliefert worden seien. Davon abgesehen ergebe es für die syrischen Regierungstruppen (zum Zeitpunkt des Interviews am 18. September 2013) auch militärisch keinen Sinn, gerade jetzt Chemiewaffen einzusetzen. Die Regierungstruppen befänden sich auf dem Vormarsch und hätten auch keine Chemiewaffen benutzt, als sie sich auf dem Rückzug befanden. Assad zufolge ist Russland im Besitz von Satellitenbildern, die Rebellengruppen bzw. – in den Worten Assads – Terroristen als die Täter des Giftgasangriffes überführten (Fox News vom 18.09.2013). Die russische Regierung schließt sich dieser Sichtweise an. Sergej Markow, Berater des russischen Präsidenten Vladimir Putin, äußerte die Vermutung, dass Rebellengruppen den Angriff inszeniert hätten, um eine militärische Intervention des Westens zu ihren Gunsten zu provozieren (International Business Times vom 23.08.2013). Die Mehrheit der Indizien spricht zwar eher für eine Täterschaft der syrischen Regierungstruppen, jedoch gibt es keine unwiderlegbaren Beweise z.B. in Form von Dokumenten oder abgefangener Kommunikation, die die Regierung (oder Rebellengruppen) der Tat überführt. Deshalb kann bis heute nicht mit hundertprozentiger Sicherheit gesagt werden, wer für den Giftgasangriff von Ghouta verantwortlich war.

 

Reaktion und Interessen externer Akteure

Schon ein Jahr vor dem Angriff von Ghouta sprach der US-Präsident Barack Obama von einer Roten Linie, die für ihn überschritten sei und sein Kalkül ändern würde, wenn im Syrienkonflikt Chemiewaffen benutzt oder transportiert würden (Washington Post vom 20.08.2012). Trotzdem wirkte die US-Regierung sehr zurückhaltend bei dem Gedanken, nach dem Angriff von Ghouta ihre Drohung zum Beispiel mit Luftschlägen wahr zu machen, obwohl sie schon früh klar stellte, dass in ihren Augen die Assad-Regierung für die Angriffe verantwortlich sei und es dafür Beweise in Form von abgefangener Kommunikation gebe (Washington Post vom 30.08.2013). Der mangelnde Enthusiasmus der USA, sich in einen weiteren komplizierten Konflikt in einer sowieso schon instabilen Region zu verstricken, kann mit der jüngeren Geschichte des Landes und der Stimmung im Land erklärt werden.
Eines der Vorhaben Obamas als Präsident war es, die US-Armee aus dauerhaften Konfliktherden wie zum Beispiel dem Irak abzuziehen, was ihm zumindest insofern gelang, als er die Anzahl von US-Soldaten und Ausstattung in dem Land stark reduzieren konnte – auch wenn dieser Abzug viele sicher nicht beabsichtigte Konsequenzen hatte. Gleichzeitig tat sich mit Libyen ein neuer Kriegsschauplatz auf, in den die Amerikaner involviert waren und der sich ebenfalls nicht so entwickelte wie zu Anfang der Intervention gedacht. Aus diesem Grund widerstrebte Obama – und mit ihm wahrscheinlich auch vielen Amerikanern – nach dem Angriff von Ghouta der Gedanke, die USA in einen weiteren Konflikt zu involvieren, der die Gefahr barg, zu einem zweiten Irak zu werden (Bentley 2014: 1036). Zu diesem Déjà-Vu-Gefühl trägt bei, dass Chemiewaffen für gewöhnlich zu den Massenvernichtungswaffen gezählt werden, deren Besitz durch Saddam Hussein als Rechtfertigung für den Einmarsch in den Irak 2003 herangezogen wurde. Aus diesem Grund stellte Obama, in die Enge getrieben von seinen eigenen Roten Linien, das Tabu der Nutzung von Chemiewaffen als Tabu der ganzen internationalen Gemeinschaft dar, als er sagte: „I didn’t set a red line, the world set a red line“ (Bentley 2014: 1039). Somit liege es auch nicht allein in der Verantwortung der USA, die Konsequenzen aus diesem Tabubruch zu ziehen, da jedes rechtschaffene Land auf der Welt, das Chemiewaffen ablehnt, jetzt reagieren muss, zum Beispiel, indem es zusammen mit den USA über Militärschläge gegen die syrische Regierung nachdenkt. Was genau das Ziel einer etwaigen militärischen Intervention in Syrien werden sollte, blieb indes fraglich – es bleibt zu vermuten, dass z.B. nur das syrische Chemiewaffenarsenal zerstört werden sollte, ohne gleichzeitig einen Sturz der Assad-Regierung herbeizuführen, da ein Sieg Assads im Vergleich mit der zunehmenden Zahl extremistischer Rebellengruppen das kleinere Übel wäre (Bew 2013: 22), „as long as they keep body count at a certain level“ (Foreign Policy vom 19.08.2013), wie ein amerikanischer Geheimdienstangehöriger nach den Vorfällen von Chan al-ʿAsal im März 2013 erläutert. Es ist dieser Zynismus, den auch die al-Mustaqbal der internationalen Gemeinschaft im Umgang mit dem Angriff von Ghouta und weiteren Chemiewaffenattacken vorwirft.

Darüber, dass Assad das kleinere Übel sei und eine militärische Intervention für alle Beteiligten keine wünschenswerte Lösung für das Chemiewaffenproblem darstelle, waren sich Russland und die USA einig, was mit der Resolution des Sicherheitsrats Nr. 2118 zu einem der wenigen Momente russisch-amerikanischer Kooperation in der Syrienkrise führte. Russlands nationales Interesse ist es erstens, durch Erfolge in Syrien russisches Selbstbewusstsein und russischen Einfluss als Großmacht in der Region und global zu stärken (Stent 2016: 106), und zweitens, Terrorismus und Instabilität in der Region zu bekämpfen, damit dieser sich nicht inspirierend auf Russlands eigene instabile, ebenfalls sunnitisch geprägte Kaukasusregion auswirkt (Tudoroiu 2015: 150). Um diese beiden Ziele zu erreichen, ist Bashar al-Assad die beste gebotene Alternative als Präsident in Syrien. Die Beziehungen zwischen Russland und Syrien sind gut – Assad bezeichnete Russland in seinem Interview mit Fox News vom 18. September 2013 als „guten Freund“ – weshalb eine Regierung mit Assad an der Spitze deutlich besser geeignet wäre, russische Interessen zu unterstützen als eine eventuelle Regierung aus moderaten oder extremistischen Rebellen – die sich ihren Weg an die Macht auch gegen russische Waffen erkämpft hat – oder gar keine Regierung. Dabei ist die syrische Regierung allerdings nur Mittel zum Zweck: Sollte Assad unhaltbar werden, wird Russland wohl nicht versuchen, ihn mit allen Mitteln zu stützen, sondern seine Interessen lieber an anderer Stelle oder in direkten Verhandlungen mit den USA verfolgen (Tudoroiu 2015: 151). Der Giftgasangriff von Ghouta war somit für Russland eine gute Gelegenheit, die eigene Initiative als eine diplomatische Lösung der Krise mit dem kriegstreiberischen Ansatz der USA zu kontrastieren, Einfluss in Syrien speziell und in der Welt allgemein zu gewinnen und gleichzeitig Assad als Verbündeten zu stützen. Diese Meinung vertritt auch der Artikel der ad-Diyār, der die russische Initiative als Beispiel vorausschauender, kluger Diplomatie darstellt.

 

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[1] All things considered vom 25.8.2013: World reacts to alleged Syrian chemical attack. Online verfügbar unter http://go.galegroup.com/ps/retrieve.do?tabID=T006&resultListType=RESULT_LIST&searchResultsType=MultiTab&searchType=AdvancedSearchForm&currentPosition=1&docId=GALE%7CA340837324&docType=Audio+file%2C+Broadcast+transcript&sort=RELEVANCE&contentSegment=&prodId=LitRC&contentSet=GALE%7CA340837324&searchId=R1&userGroupName=freiburg&inPS=true zuletzt abgerufen 08.09.2016.